Liebe Ukrainische Community,
lieber Bürgermeister Andreas Stegemann,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist nun schon 9 Jahre her, als der Versuch scheiterte, die Proteste auf dem Maidan in Kiew mit Gewalt zu unterdrücken. Mehr als 100 Menschen wurden getötet, Menschen, die ihre Hoffnung auf Veränderung und Demokratie gesetzt hatten, Hoffnung auf eine Ukraine, die Teil einer europäischen Familie werden sollte, geeint in Frieden und in Gerechtigkeit.
8 Jahre ist es nun schon her, dass Russland die Ukraine überfallen hat, einen Krieg in der Ostukraine vom Zaun brach, die Krim annektierte.
1 Jahr ist es nun her, dass Wladimir Putin seine Spezialoperation startete, einen weiteren feigen Überfall auf sein Nachbarland, in der Überzeugung, dass der Widerstand der Ukrainer innerhalb weniger Tage in sich zusammenfallen würde. Dass er aus der Ukraine einen autoritär regierten Vasallen-Staat machen könnte, Einflussbereich seiner Allmachtphantasien. Putin hat den Fehler gemacht, der immer wieder egomanen Herrschern unterläuft: er hat die Menschen in ihrem Streben nach Freiheit unterschätzt.
Er hat die Ukrainer unterschätzt, die eben nicht ihre Träume einer neuen Ukraine aufgegeben haben. Er hat die politische Führung in Kiew unterschätzt, die mit Präsident Selenskyj eine Galionsfigur an Tapferkeit, Mut und Aufrichtigkeit gefunden hat. Und er hat die Solidarität so vieler demokratischer Staaten unterschätzt, die bereit waren und bereit sind, die Ukraine zu unterstützen in ihrem Kampf gegen einen verbrecherischen Usurpator.
Putin setzte darauf, dass es wie so häufig kommen würde. Zuerst ist die Aufregung groß wie beim Krieg im Donbas, wie bei der Annexion der Krim, doch dann fällt der Widerstand in sich zusammen, weil andere Thema in der Weltöffentlichkeit wichtiger erscheinen, weil andere Probleme als drängender wahrgenommen werden. Putin setzte darauf, dass es so laufen würde, wie so oft in der Menschheitsgeschichte. Dass die Schwachen Opfer der Mächtigen und Skrupellosen werden, die sich einfach nehmen, was sie wollen, weil keiner wagt, ihnen in den Arm zu fallen.
Wenn wir uns an diesem ersten Jahrestag des erneuten russischen Überfalls auf die Ukraine hier auf unserem Marktplatz treffen, dann tun wir dies, um uns gegen das Vergessen zu stellen. Wir wollen den Krieg nicht einsickern lassen in unseren Alltag, der Krieg in der Ukraine darf für uns niemals etwas Alltägliches werden. Er steht quer zu unserem Leben in Freiheit und Demokratie, er bleibt ein offensichtliches Verbrechen an einem Volk, das doch nur seine Selbstbestimmung will. Wir müssen empfindsam bleiben für diese grausame Realität, nicht abstumpfen gegenüber Bildern und Nachrichten, sondern uns weiter unserer Verantwortung stellen.
Nach Ausbruch des Krieges gab es eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft in unserem Land, in unserer Stadt. Viele stellten Wohnraum zur Verfügung, nahmen Menschen in den eigenen vier Wänden auf. Nach einem Jahr dürfen wir stolz auf das schauen, was da möglich wurde, dürfen wir stolz auf unser Zusammenleben schauen, denn auch nach einem Jahr sind so viele Engagierte nicht müde geworden. Natürlich gibt es auch hier und da Probleme, läuft nicht alles nur glatt und geräuschlos. Und doch stehen wir heute hier und erleben eine ukrainische Community in unserer Stadt, die gestärkt wurde von Aufnahme- und Hilfsbereitschaft. Menschen, die ihre Sehnsucht nach Frieden nicht verloren haben.
Die den tiefen Wunsch in ihren Herzen tragen, einmal wieder in ihre befreite Heimat zurückzukehren.
Sehr geehrte Damen und Herren,
unsere Bibel ist ein Buch der Sehnsucht. Die Menschen des Alten und Neuen Testamentes setzen immer wieder ihre Hoffnung auf Gott, dem sie zutrauen, alles zum Guten zu führen. Die traumatische Erfahrung des Volkes Israel war das Babylonische Exil. Lebten die Israeliten doch ganz aus dem Selbstverständnis, dass Gott ihnen selbst das Heilige Land und gerade die Heilige Stadt Jerusalem geschenkt hatte, mussten sie erleben, wie das Land zerschlagen und aus Freiheit Unfreiheit wurde. Die Rückkehr in die Gottes Stadt Jerusalem war der Sehnsuchtspunkt all ihrer Träume.
Am heutigen Tag ersetzen wir für unsere Ukrainischen Freundinnen und Freunde den Namen Jerusalem mit den Städten der Ukraine.
In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt Charkiw, Luhansk, Donezk, Mariupol, in deinen Toren kann ich atmen, erwart mein Lied. In deinen Toren werd ich stehen, du freie Stadt.
Wir verbinden uns heute in unserer Sehnsucht nach Frieden, nach Freiheit für die Menschen in der Ukraine.