Fürchte dich nicht, denn ich habe dich bei deinem Namen gerufen. (aus dem Buch des Propheten Jesaja 43,1b)
Im Dezember des vergangenen Jahres hatten wir in unserer Pfarrgemeinde einen besonderen Gast. Pfarrer Neuenhofer aus La Paz in Bolivien war in Haltern, um von seiner Arbeit für die Straßenkinder im ärmsten Land Südamerikas zu erzählen. Durch sein langjähriges und so vielfältiges Engagement kann Neuenhofer von so reichen Erlebnissen berichten, die sein Leben geprägt haben. Aus seiner Predigt ist mir ein Gedanke besonders in Erinnerung geblieben. Dort erzählte er, er sei in den ersten Jahren seines Einsatzes in der Metropole fast ausschließlich damit beschäftigt gewesen, Kindern eine Identität zu geben. Sprich: Er begleitete die Straßenkinder, die weder ihren Namen noch ihr Geburtsdatum kannten, zu den Behörden, um Dokumente für sie ausstellen zu lassen. Die Kinder durften entscheiden, wie man sie ansprechen sollte, und das machte sie größer, stärker, gab ihnen ein ganz neues Selbstwertgefühl.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir versammeln uns am heutigen Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers von Ausschwitz, dem Holocaust-Gedenktag, auf dem jüdischen Friedhof unserer Stadt, um uns an das schier unermessliche Verbrechen zu erinnern, das Nazi-Deutschland an Millionen von Menschen verübt hat. Der Wahn ihrer Ideologie brachte Menschen auch in Haltern dazu, ihren Nachbarn und Mitbürgern das Lebensrecht abzusprechen. Eine Facette dieses zum Himmel schreienden Unrechts war der Versuch, die Opfer namenlos zu machen, ihr Andenken auszulöschen. Den Deportierten wurde in den Vernichtungslagern das Recht genommen, sich bei ihren Namen zu rufen. Menschen sollten zu Nummern degradiert werden, diese tätowiert in ihre Haut.
In Yad Vashem, der internationalen Holocaust-Gedenkstätte unweit von Jerusalem, wird der Besucher am Ende des Rundgangs in die sogenannte "Halle der Namen" geführt. Hier werden die Namen und persönlichen Daten der jüdischen Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes gesammelt. Dieser Raum repräsentiert einen wichtigen Arbeitsschwerpunkt der Gedenkstätte:
Es wird versucht, möglichst lückenlos Namen und biographische Angaben von Millionen von Opfern zusammenzuführen, und diese Daten werden dann über eine zentrale Datenbank unter Angabe der Quellen auch online bereitgestellt.
Wenn wir heute hier zusammenkommen, dann gerade auch deshalb, um das Andenken der Menschen zu wahren, die in Haltern gelebt haben, die aber gedemütigt, entrechtet, vertrieben und ermordet wurden. Wir wollen zum Ausdruck bringen: Die Täter haben ihr Ziel nicht erreicht. Die Erinnerung an diese Menschen wurde nicht ausgelöscht, ihre Namen sind nicht vergessen.
Wir wollen sie hier aussprechen:
Heinrich Daniel, geb. 1888
Fanny Fresco, geb. 1879
Jakob Meyer, geb. 1886
Rosalie Meyer, geb. 1870
Sara Pins, geb. 1870
Ella Daniel, geb. 1894
Hannelore Daniel, geb. 1928
Karl Hamacher, geb. 1902
Charlotte Lebenstein, geb. 1884
Rosalie Herzfeld, geb. 1881
Leonhard Cohen, geb. 1866
Abraham Weyl, geb. 1869
Nathan Lebenstein, geb. 1880
Fritz-Otto Herzfeld, geb. 1911
Jeanette Kleeberg, geb. 1885
Ranette Lebenstein, geb. 1867
Anna Rosenberg, geb. 1867
Hermann Cohen, geb. 1873
Max Meyer, geb. 1888
Caecilia Meyer, geb. 1870
Cora Meyer, geb. 1874
Jette Meyer, geb. 1878
Ein großes Geschenk für unsere Stadt ist es, dass wir dem einzig Überlebenden, Alexander Lebenstein, geb. 1927, durch seine Namensgebung für unsere Realschule ein so lebendiges Andenken bewahren können. Dass gerade so viele junge Menschen in unserer Stadt auf seinen Namen, auf sein Leben verwiesen werden. Ein Name wie ein Synonym für das Wachhalten der Erinnerung. Dass immer neue Generationen von Schülerinnen und Schülern mit unserer großen Verantwortung in unserem Land in Berührung kommen, dass es nie wieder dazu kommen darf, dass Unrecht und Willkür sich über das Recht erheben, sondern Demokratie, Respekt und Vielfalt den Weg in eine gute Zukunft weisen.
Mit seiner Bereitschaft, einer Schule seinen Namen zu schenken, hat Alexander Lebenstein auch Zeugnis für seine fast übermenschliche Bereitschaft zur Versöhnung gegeben. Uns kann eine solche Haltung nur demütig und dankbar machen - wir wollen seinen Namen in die Zukunft tragen.
Der gemeinsame Glaube von Juden und Christen an einen Gott, der jeden von uns bei seinem Namen gerufen hat, kann uns die Größe und den Wert eines jeden menschlichen Lebens vor Augen stellen. Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes wollten uns genau dies in die Herzen schreiben, als sie im ersten Artikel formulierten: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Und dann heißt es weiter: "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Die Würde des Menschen, sie darf nicht zum Spielball der Mächtigen werden. Wer genau hinhört, der spürt die feine Unterscheidung, die die Verfasser hier einführen: Der Staat hat die Pflicht, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Er selbst verleiht diese Würde aber nicht. Sie ist vielmehr immer schon da. Ich denke an das Wort von Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Der freiheitliche, säkulare Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Die Würde des Menschen gehört zu diesen Voraussetzungen. Sie ist Teil unseres Lebens vom ersten Atemzug an, nicht erst verdient, erworben, sondern unbedingtes Geschenk, unverlierbar, unzerstörbar.
Schon die Texte des Judentums, 2500 Jahre alt, gehen der Suche nach der Quelle der menschlichen Würde nach - und sie werden fündig. Jeder von uns, so bekennen sie, ist ein Gedanke Gottes. Unverwechselbar, einzigartig, kostbar. Dein Name, eingeschrieben in Gottes Hand. Ein Gott, der auch einem jeden Menschen, dessen Name hier gerade genannt wurde, zuspricht: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!"