»Denn ich will euch eine Zukunft und eine Hoffnung geben.« Jeremia 29,11

Holocaust-Gedenktag

Holocaust-Gedenktag

Wir reden, weil wir nicht schweigen dürfen

An einem Tag wie heute verbieten sich leichthergesagte Sonntagsreden. Vielmehr lässt uns die Erinnerung an den Holocaust, an die Verbrechen, die an unseren jüdischen Mitbürgern in der Zeit der Nationalsozialismus verübt wurden, verstummen. Ich erinnere mich an ein Wort des Philosophen Ludwig Wittgenstein: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen." Die Größe des Unrechts, der Grausamkeit und der Demütigung, die die Verfolgten erleiden mussten, macht uns sprachlos. Wir finden keine Worte für das, was damals mitten in der deutschen Gesellschaft geschehen ist. Schweigen aus Ohnmacht, aus Respekt vor den Opfern, aus Scham, weil jedes Wort so weit hinter erlittenem Leid zurückbleiben muss.

Und doch haben wir zu reden. Weil wir gerade das den Kindern, Frauen und Männern schuldig sind, denen damals so großes Unrecht widerfuhr. Schon viele, die es unternahmen, den Holocaust zu reflektieren und auf seine Konsequenzen für das Hier und Heute zu befragen, sahen sich nach ihrem Versuch dem Vorwurf ausgesetzt, das Leid der Verfolgten zu relativieren. Als Hannah Arendt die Banalität des Bösen in der Gestalt des NS-Schergen Eichmann erkannte oder als die verunglückte Rede des Bundestagspräsidenten Jenninger am 50. Jahrestag der November-Pogrome einen politischen Eklat in der Bonner Republik auslöste, wurde sichtbar, wie schnell es zu Missdeutungen kommen kann, wenn eigentlich Unsagbares ins Wort gezwungen wird.

Und doch haben wir zu reden, haben wir Worte für das zu finden, was uns am heutigen Tag ein so großes Anliegen ist. Wir wollen die Erinnerung wachhalten, zuerst an die Menschen, die aus ihrem Leben gerissen wurden. Wir wollen erinnern an Unrecht und Verbrechen. Und wir wollen uns zurufen: So etwas darf nie wieder geschehen! Wehret den Anfängen! Als gesamte Gesellschaft müssen wir uns dafür sensibilisieren, wo mit Hass und Hetze gegen Menschen polemisiert wird. Wir müssen den Mut haben, Unrecht auch als solches zu benennen. Dies hat womöglich unbequeme Konsequenzen für uns, kann es doch bedeuten, in der eigenen Familie, im eigenen Freundeskreis und am Arbeitsplatz dann nicht zu schweigen, wenn wieder einmal AFD-Parolen salonfähig gemacht werden sollen, wenn ein "Das wird man doch mal sagen dürfen" alles zu legitimieren versucht.

Wie fragil unser demokratisches Zusammenleben ist, haben uns die Ereignisse der vergangenen Wochen in den USA gezeigt. Eine Politik, die Andersdenkende und Anderslebende als Feinde brandmarkt, untergräbt die Fundamente unserer Verfassung, unseres Zusammenlebens. Die wahre Größe einer Gesellschaft ermisst sich daran, wie sie mit den Gruppen umgeht, die nicht in der Lage sind, selbst ihre Rechte durchzusetzen. Der Ort eines jüdischen Friedhofes in unserer Stadt ist ein stummer Zeuge dafür, wohin Hass und Hetze unser Zusammenleben in kürzester Zeit eskalieren können. Deshalb ist das Schweigen am heutigen Tag keine Alternative. Wir haben die Toten zu ehren und das Unrecht damals wie heute beim Namen zu nennen. In der Zeit des Holocaust wurden Menschen in Haltern mundtot gemacht und ihrer Rechte beraubt. Wir geben ihnen am heutigen Tag unsere Stimme und das Versprechen, sie nicht zu vergessen.

Wir geben Euch unser Wort!

Pfarrer Michael Ostholthoff